Jede Identität bietet Ihnen die Möglichkeit, als ein ‚ich‘ unter mehreren ‚wir‘ zu sprechen und damit zu einem ‚wir‘ zu gehören.
Kwame Anthony Appiah: Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit
ZUGEHÖRIGKEIT
Blicke treffen aufeinander, und wenden sich voneinander ab. Und treffen auf meinen Blick. Am Anfang waren es zwei, dann immer mehr, bis sie unzählbar wurden. Bald tauchen die Fragen auf. Blicke und Fragen gehören zusammen, sie werden im Wechsel zueinander verwendet, um mehr zu erfahren. „Wer bist du?“ Da ist sie, die Frage.
Vor einem Monat hätte ich eine klar strukturierte Antwort gehabt. Wie ich heiße, wer ich bin, woher ich komme. Eine Beschreibung von mir selbst, wenn ich mich meinem Umfeld vorstelle, meine soziale Identität. Vor einem Monat hätte ich gesagt „Ich bin Eve, lebe in Deutschland. Wo ich herkomme? Hm, ein Teil meiner Familie kommt aus Russland und ein Teil aus Deutschland.“ Eine Aussage, in der nicht nur andere Menschen, sondern auch ich, mich selbst kategorisiere. Diese Kategorisierung, welche das Gefühl gab, „dazu zu gehören“ und in die soziale Welt hineinzupassen. Dies thematisiert auch Kwame Anthony Appiah in seinem Werk Identitäten. Fiktionen der Zugehörigkeit.
So heißt es bei Appiah:
„Jede Identität bietet Ihnen die Möglichkeit, als ein ‚ich‘ unter mehreren ‚wir‘ zu sprechen und damit zu einem ‚wir‘ zu gehören.“
Dies bedeutet, eine Verbindung und eine Solidarität mit anderen Angehörigen der Gruppe oder Gemeinschaft einzugehen. Die Quelle eines solchen Gemeinschaftsgefühls ist auch nicht nur eine reale und beständige Verbindung zu diesem Ort oder der Kultur. Sondern auch das Wissen, dass dort die leiblichen Verwandten gelebt und unsere Geschichte dort und mit diesen Menschen geschrieben haben. Durch die Anekdoten und Geschichten, welche die Eltern und Großeltern im Laufe des Aufwachsens weitergeben bilden sich persönliche Geschichten. Diese Geschichten stellen einen Ort dar, in welchem die weitergegebene Kultur sowie historische Orte Platz finden. Man entwickelt durch diese Geschichten auch ein persönliches Interesse an der weitergegebenen oder angeeigneten Kultur, die dann im Gegenzug dafür sorgt, dass man einen spezifischen Information Bias aufbaut, die einen weiterhin dazu motivieren, sich darüber zu informieren. Auf der aktiven Suche nach Informationsmaterial kann sich eine Verbindung sowie eine Art von Stolz über die familiäre Geschichte entwickeln.
Durch diese Anekdoten und Geschichten baut sich ebenfalls die Möglichkeit auf, Gründe zu geben und bestimmte Dinge zu tun oder zu vermeiden.[2] Für mich war mein russischer Hintergrund immer ein Fakt, welcher daraus entstand, dass meine Großeltern früher in Russland lebten, und nach Deutschland emigrierten mit der Hoffnung auf bessere Arbeitsmöglichkeiten. 35 Jahre ist es her, seit sie diese Entscheidung in die Realität umgesetzt haben. Sie kamen nach Deutschland und haben eine Familie gegründet. Sie haben ihren Kindern und Enkelkindern die russische Sprache beigebracht, die Küche und Traditionen weitergeführt, sowie auch die Verbindung zu weiteren Angehörigen gestärkt. Für uns Enkelkinder war es immer selbstverständlich, dass wir aus Russland stammen, obwohl meine Großeltern sehr selten über ihr Leben vor Deutschland erzählten.
Doch nachdem Anfang 2022 Russland die Ukraine angriff und ein bis heute andauernder Krieg begann, änderte sich dies rapide. Durch die Nachrichten, Sozialen Medien und die plötzliche Flüchtlingswelle entwickelte sich im Europäischen Raum eine starke Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung. In kürzester Zeit begannen Hilfsorganisationen und Privatpersonen zusammenzuarbeiten, um für Unterhalt zu sorgen und Hilfspakete zusammen zu stellen. Diese Entwicklung wirkte sich auf meine Großeltern aus und gab ihnen den Mut, sich vor uns zu öffnen.
„Wir sind stolze Ukrainer“, verkündete mein Großvater uns plötzlich. Eine Aussage, welche meinen Großeltern Erleichterung brachte, hatte mich in einen Wirbel voller Verunsicherung und Identitätsangst versetzt. Plötzlich erwarteten meine Großeltern, dass ich eine neue Identität annehme. Abzulegen wer ich bin oder war. Ich wusste selbst nicht mehr, was ich fühlen oder wie ich denken soll.
Die Identität ist von vielen Dingen geprägt, angefangen bei der Herkunft der Familie und der Nationalität, welche uns an einen Ort bindet; vom Geschlecht, das uns jeweils mit der Hälfte der Menschheit verbindet; und von gesellschaftlichen Kategorien wie Klasse, Sexualität und Religion, die über unsere lokalen Bindungen hinausreichen. Und nun wurde eine dieser Dinge hinterfragbar – die Herkunft meiner Familie und meine Zugehörigkeit zu der Gemeinschaftsgruppe zu der ich eine Verbindung aufgebaut hatte.
Die leibliche Unmittelbarkeit beschreibt, wie unser Identitätsbewusstsein unsere Selbstwahrnehmung trübt, sodass jeder Mensch sich selbst und seinen Leib nicht objektiv wahrnimmt, sondern diesen durch eine Linse der eigenen Identität, die persönlichen Gefühle und Schmerzen individuell wahrnimmt. Dies führt dazu, dass trotz der eigenen körperlichen Unversehrtheit und identischer Ausgangslage häufig durch die persönliche Selbstwahrnehmung und Empfindungen die omnipräsente innere Einsamkeit eines jeden Menschen besonders schwer wiegt. Verstärkt wird dieser Effekt durch den Verlust der Stabilität, die einem das persönliche Identitätsgefühl im täglichen Alltag verleiht, hat.[4]
Nach einer ausgiebigen Selbstreflexion[5] hatte diese Verkündung für mich weniger eine pragmatische, sondern vielmehr eine symbolische Bedeutung. Von nun an musste ich mein Denken und mein tägliches Handeln in einen neuen Kontext setzen, der sich nicht grundsätzlich, aber mit einer leichten Nuance von meinem bisherigen unterscheidet. „Vielmehr entsteht die Identität einer Person aus dem Wechselverhältnis von Kontext und Integration einerseits, von Individualität und Abgrenzung andererseits.“[6] Diese leichte, aber dennoch präsente Veränderung ist in der Lage, die subjektive Gefühlsbalance zu stören und bietet besonders negativen Gefühlen; wie Angst, Isolation; und Wurzellosigkeit den Platz, mein Denken zu beeinflussen. Die Wurzellosigkeit ist hierbei eine direkte Konsequenz daraus, plötzlich eigene Aufzeichnung der Familiengeschichte umschreiben zu müssen. Wie viel von dem, was wir über die Taten und Geschichten unserer Familie und unserer Vorfahren erzählt bekommen haben, ist wirklich wahr? Was sind Lügen, was Übertreibungen, und was wurde erfunden, um sich selbst und die Sicherheit der eigenen Familie in den historischen Umständen zu beschützen? Solche Situationen lassen sich gesellschaftlich, geografisch und zeitübergreifend auf unterschiedlichste Menschen übertragen. Der bereits zuvor erwähnte Interessensbias über Familiengeschichte und Kultur macht es umso ernüchternder, wenn die eigene Familiengeschichte relativiert wird und man seine Interessen umorientieren muss, um die Geschichte nachzuverfolgen.
Es gibt jedoch ein „Silverlining“ beziehungsweise einen Hoffnungsschimmer, wenn man dies als solchen betrachten kann. Ist es noch möglich in diesen turbulenten Zeiten noch stolz auf eine russische Familie sein, oder ist man dann doch froh zu erfahren, dass dem nicht so ist. In diesem Fall: wie stolz kann man über die Herkunft aus beliebigen Ländern sein, da ziemlich jedes Land in der Vergangenheit Kriege geführt hat, begründet oder nicht? Familien wurden dennoch zerrissen und Menschen ließen ihr Leben. Was bleibt ist nur die Geschichte.
Meine Intention ist es nicht, sofort eine Antwort für mich zu finden, sondern meine Identität zu thematisieren und Identitätsverlust und Selbstfindung in Verbindung zur familiären Identität zu eröffnen.