Hörstation

elfriede Jelinek: "Die Schutzbefohlenen"

von Dr. Sarah Seidel

Bereits 1994 nimmt Elfriede Jelinek (*1946) Kunstschaffende in die gesellschaftliche Verantwortung. In einer Stellungnahme zur Asyl- und Aufenthaltsgesetzgebung in Österreich schreibt sie:

 

„Wenn wir Künstlerinnen und Künstler in unseren Arbeiten die Moral vergessen, die Verpflichtung, die wir den Fremden gegenüber haben, die sich zu uns geflüchtet haben, dann wird sich unser scharfer Blick letztlich trüben und wir werden überhaupt nichts mehr sagen können, was wahr ist. […] Es ist unsere Aufgabe, für diejenigen zu sprechen, für die kein anderer spricht.“

 

Diese Worte sind gleichsam als Selbstverpflichtung zu verstehen, der sie auch in den Schutzbefohlenen nachkommt. Der dramatische Text konfrontiert uns mit dem Umstand, dass die Menschenwürde in den Auseinandersetzungen und Debatten um die Migrationspolitik nur noch als Worthülse, ohne Bedeutungsgehalt steht (Nummer 1). Hier enthüllen Sprachspiele wie Worte zu Formeln und leeren Versprechen verkommen. Durch das Ersetzten oder Hinzufügen einzelner Buchstaben innerhalb von Worten entstehen sogenannte sprachliche Minimalpaare, mit denen eine Bedeutungsverschiebung einhergeht. Die Minimalpaare (z.B. Wert/Werte) bilden den schmalen Grat ab, der eine Rede ins positiv Hoffnungsvolle hebt oder ins negativ Abwertende gleiten lassen kann. (Nummer 2 und Nummer 3). Die Figurenrede zeigt auf, wie nah humanitäre Ideale und dehumanisierende Objektivierung beieinanderliegen (Nummer 3). Wenn nicht mehr „gnädig auf einen herabgeschaut“ wird, wie dies die Götter in Aischylos Prätext Die Schutzflehenden tun, dann wird nur noch „herabgeschaut“ – und einem solchen Blick ist die Verachtung stets eingeschrieben (Nummer 4). Wenn sich also die Götter nicht mehr erbarmen, dann ist mit Gnade nicht mehr zu rechnen (Nummer 6).

 

Während sich die Geflüchteten zunächst noch freuen, dass sie bei ihrer Ankunft am Leben sind (Nummer 4) verlieren sie im Laufe des Dramas immer mehr ihre Zuversicht, benennen die eigene Hilflosigkeit auf dem Wasser, wie an Land (Nummer 8) und verweilen am Ende als Untote unter uns (Nummer 2), gefangen in einem Bereich des Zwischen – weder tot noch lebendig. Ungesehen und ungehört von der Gesellschaft (Nummer 5 und 6). Stellvertreter:innen dieser Gesellschaft kommen ebenfalls zu Wort, äußern ihre Ängste, gleiten in populistische Parolen ab (Nummer 7). Doch nicht immer lässt sich das Gesprochene klaren Sprechpositionen zuordnen. „An die Stelle des Streitdialogs treten chorische Äußerungsformeln, die weder den Flüchtlingen noch den Gastgebern eindeutig zugerechnet werden können und keine Aufteilung in Rede und Gegenrede zulassen.“ Die Form des Dramas löst sich auf (Nummer 9). Das Leid der Geflüchteten lässt sich nicht in eine geschlossene theatrale Form gießen. 

 

Weitere Informationen zu Elfriede Jelineks Engagement und ihrem literarischen Schaffen finden Sie auf ihrer Webseite: https://www.elfriedejelinek.com

 


Hintergrund

Im November 2012 machen sich in Österreich etwa 70 Geflüchtete zu Fuß auf den Weg von ihrem Aufnahmelager in Traiskirchen nach Wien. Mit ihrem „Protestmarsch“ wollen sie auf die menschenunwürdige Unterbringung und ihre schlechte Behandlung aufmerksam machen. Es folgen Hausbesetzungen und Kirchenasyl, Abschiebungen und immer weitere Proteste. Im März 2014 kommt es zu einem Gerichtsverfahren wegen Schlepperei, das nach nur fünf Minuten abgebrochen wird. Zwei Monate später wird Elfriede Jelineks Stück Die Schutzbefohlenen in Mannheim uraufgeführt – wenige Monate bevor in Europa 2015 die „Flüchtlingskrise“ ausgerufen wird.

 

Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat auf der Basis dieses Protestmarsches den Stoff von Aischylos’ Die Schutzflehenden (ca. 463 v. Chr) neu bearbeitet. Im antiken Drama fliehen die 50 Töchter des Danaos vor der Zwangsverheiratung. In Jelineks postdramatischem Theaterstück wird der Ausgangstext vor der Folie der realpolitischen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit umgedeutet. Dabei werden beliebige Stimmen so zusammengestellt, dass sie die Phrasenhaftigkeit der Rede entlarven und gleichzeitig unsere freiheitlichen, moralischen Grundüberzeugungen auf die Probe stellen.